„Ich hätte viel eher zu mir stehen müssen“
Sascha aus Cuxhaven, Mitte 30 *, befindet sich zum Zeitpunkt unseres ersten Gesprächs „mitten im Umbau“, wie er sich selbst lachend beschreibt. Er sei „nichts Halbes und nichts Ganzes“ und „könne noch nicht im Stehen pinkeln“.
Als Mädchen geboren wächst er in einer Familie mit einem älteren Bruder und einer 4 Jahre jüngeren Schwester auf. Der Bruder ist sein Vorbild. Er fühlt sich immer als kleiner Bruder „klein, jung, wild“. Weil die Familie einer Glaubensgemeinschaft angehört, bei der Frauen und Mädchen auf Versammlungen Röcke und Kleider tragen müssen, versucht Sascha sich der Mädchenrolle anzupassen. „Aber desto älter ich wurde, umso mehr habe ich Röcke gehasst.“
Als 9-Jähriger tut er es den anderen Jungen gleich, die im Sommer ihre T-Shirts ausziehen, und bezieht Schimpfe vom großen Bruder. Mit 11 Jahren verkürzt er seinen weiblichen Vornamen auf eine neutrale Abkürzung. Und als 14-Jähriger sagt er auf der Pferdewiese zu einer Schulfreundin: „Jungs haben das gut. Die können im Stehen pinkeln.“ Die Klassenkameradin erzählt am nächsten Tag in der Schule, dass die Freundin lieber ein Junge wäre. Seit dieser Zeit wird Sascha „IbifK“ (= „Ich bin im falschen Körper“) genannt. „Das war Mobbing der härtesten Sorte,“ erzählt er. Und es hält die ganze Schulzeit an. „Ich war immer Prügelknabe und Außenseiter.“ Weil seine Religionsgemeinschaft keine Geburtstage feiert, durfte er als einziger nicht auf Kindergeburtstage gehen. Und er lernt zu Hause nicht, sich zu verteidigen, sondern nur auch die andere Wange hinzuhalten.
Mit 17 Jahren verlässt Sascha die Gemeinschaft, weil ihm das neben der Arbeit zu viel wird. Er beginnt eine Ausbildung als Bäcker, die er abbricht. Dann stellt er sich in einer Tierarztpraxis vor – mit langen blonden Haaren. Zur Verwunderung des Chefs schneidet er sich noch am selben Tag die Haare kurz, färbt sie rot und trägt Cappy. Für die Ausbildung zum Tierarzthelfer entscheidet er sich, weil er eine enge Beziehung zu Pferden hat. „Tieren habe ich immer vertraut, Menschen können dir vormachen, dass sie dich mögen und dann beißen sie.“
Eine ganz schlimme Zeit erlebt Sascha mit 22 Jahren. Er frisst sich einen Bauch an, damit sein Busen nicht auffällt. Mit dem Ergebnis, dass „der junge knackige Bursche“, den er mir stolz auf einem alten Foto zeigt, nicht mehr existiert. „Ich kriegte das Schütteln, wenn ich in den Spiegel schaute“, sagt er heute.
Sascha legt sich einen Fake Freund zu, dann definiert er sich als Lesbe. Dass er nicht zu sich selbst steht, hinterlässt Spuren. Bereits seit 2009 ist er in Behandlung wegen verschiedener psychischer Erkrankungen: Borderline, Soziophobie, schwere depressive Episoden. Eine Magersucht bekommt er alleine in den Griff. 2012 landet er wegen Suizidgefahr in einer Klinik, nachdem eine Freundin die Beziehung beendet.
Seit 2015 ist Sascha verrentet wegen psychischer Erkrankungen und einer Fibromyalgie. Letztere ist nach Meinung des Arztes die Folge einer Verkrampfung. Sascha bestätigt: „In Beziehungen konnte ich mich nie fallen lassen, konnte nicht locker lassen.“
Bei einem Date im September 2015 hat er ein Schlüsselerlebnis und erkennt, was seine Umwelt schon früher erkannt hat als er selbst. Oder was er aus Angst vor der Reaktion seiner Eltern abgestritten hat. „Ich war immer schon ein Kerl. Ich habe mir nur nicht erlaubt, darüber nachzudenken und hatte nicht den Mut das auszusprechen. Ich habe mich gefühlt wie ein Tiger im Käfig, der an Stäben rüttelt und raus in die Freiheit will, um endlich so zu sein, wie ich gehöre.“
Er erzählt zuerst den Geschwistern, was mit ihm los ist. Seine Schwester akzeptiert es sofort. Der Bruder ist nicht überrascht, sondern hat schon lange darauf gewartet, dass Sascha endlich zu sich steht und sagt: „Ich wollte immer kleinen Bruder haben!“
Sascha gesteht den Eltern, kein Mädchen zu sein. Zu diesem Zeitpunkt gab es nur noch zwei Möglichkeiten, weiß er heute. „Entweder die Familie zu verlieren oder mir einen Strick zu nehmen.“
Die Mutter reagiert unerwartet freudig und sagt: „Du bist doch nicht lesbisch. Du bist normal!“ Sie ist es auch, die ihm den Jungennamen aussucht.
Nachdem er sich geoutet hat, ist der Wunsch nach einer Operation sofort da. 2018 wird die Brust amputiert. „Ich konnte atmen, gerade laufen, musste mich nicht mehr verstecken. Und ich hatte keine Rückenschmerzen mehr!“ Nach der Vorlage von zwei Gutachten werden die Eierstöcke und die Gebärmutter entfernt, was zunächst abgelehnt worden war.
Für den Aufbau des Unterleibs sind insgesamt vier Operationen erforderlich. Für die zweite fährt Sascha kurz nach unserem Erstgespräch im Dezember 2019 nach München. Die Kasse zahlt die Fahrt allerdings nur bis Bremen, weil dort auch schon eine Operation möglich wäre.
Auch wenn der „Umbau“ noch nicht beendet ist, nennt die Mutter ihn schon jetzt „mein Sohn“. Sie ist es auch, die von der Selbsthilfegruppe in der Zeitung liest und ihn auffordert dahin zu gehen. Sascha hat nicht das Gefühl noch eine Selbsthilfegruppe zu brauchen, denkt aber: „Vielleicht braucht die Gruppe mich.“
Sascha fühlt sich als „Parasit in einem Körper, dessen Vorbesitzerin sich umgebracht hat, weil sie nicht zurechtgekommen ist.“ Rückblickend sagt er: „Ich hätte viel eher zu mir stehen müssen.“ Und das ist es, was er allen anderen in der Gruppe vermitteln möchte.
Eineinhalb Jahre nach unserem Erstgespräch treffe ich Sascha wieder. Die Operation in München – die zweite von insgesamt vier für den Aufbau des Unterleibs – ist gut verlaufen. Allerdings hätte die Hausärztin sich geweigert, die Nachsorge so durchzuführen wie im Arztbrief beschrieben. Durch Verwulstungen der Narbe am Unterarm sind Nerven eingeklemmt worden mit der Folge, dass Sascha unter Taubheitsgefühlen in Fingern und Teilen des Armes leidet. Die letzten zwei Operationen können Corona bedingt nicht durchgeführt werden, sollen aber demnächst stattfinden. Durch Corona ist seine Soziophobie wieder ausgebrochen. „Alles wird schlimmer. Das hat mich in meiner Behandlung fünf Jahre zurück geworfen.“
Sascha hat viele Pläne und Träume. Sollte er wieder arbeitsfähig sein, würde er sich gerne zum Zahntechniker umschulen lassen. Außerdem schreibt er Mystery und Science Fiction Geschichten. Daraus möchte er eine TV-Serie produzieren. „Das gärt seit ich 15 bin.“
Außerdem träumt Sascha davon, endlich einmal richtig Geburtstag zu feiern, jetzt wo er umgezogen ist in eine Wohnung, die nicht so hellhörig ist wie die vorherige. Aber daraus wird wegen Corona wohl erst im nächsten Jahr was. Dann aber in einem komplett neuen männlichen Körper!
* Daten geändert
Die Gespräche wurden 2019 und 2021 geführt.
Text: Sabine Tscharntke