Geschichten von Menschen, die Mut machen

Ein Portrait von Christian aus der Transgender Selbsthilfegruppe

„Ich bin nicht als Mädchen erzogen worden“

Jeden Donnerstag um 18 Uhr hat Christian einen ganz festen Termin: das Treffen der Cuxhavener Transgender Gruppe. Seit mehr als zweieinhalb Jahren. Selbst wenn sich alle aus der Gruppe abgemeldet haben, ist Christian da. Es könnte ja unangemeldet jemand Neues kommen. Christian nimmt diese Aufgabe sehr ernst.

Heute sitzt er mir auf dem roten Sofa in der Selbsthilfe Kontaktstelle gegenüber und erinnert sich schmunzelnd an unsere erste Begegnung. „Du hast mich zum Treffen der Diabetiker Gruppe geschickt, das zur gleichen Zeit stattfand.“

Ich erinnere mich noch gut an diesen Tag, als Christian selbstbewusst in der Tür stand und nach einer Selbsthilfegruppe fragte. Ein kahlköpfiger, mittelgroßer, aber kräftiger Mann um die 60 – von der Erscheinung eindeutig männlich. Dass Christian, der 1957 als Heidemarie Katharina zur Welt kam, die Transgender Gruppe suchte, war mir gar nicht in den Sinn gekommen.  

Heidemarie ist erst vier Jahre alt ist, als die Großmutter feststellt: „Das ist ein Junge!“ Der Junge im Mädchenkörper wächst in München auf im gemeinsamen Haus mit Mutter und Großmutter. An den Großvater erinnert Christian sich nicht mehr. Den Vater lernt er nie kennen. Heute ist Christian sicher, dass es einfacher war ohne Vater. „Ich bin mit zwei starken toleranten Frauen aufgewachsen. Die haben mich angenommen, wie ich war.“ Und weil er kein männliches Vorbild hatte, konnte er sein Mann-Bild selber entwickeln. „Ich wollte mich nicht so verhalten, wie Männer meinen sich verhalten zu müssen.“

Christian spielt nicht mit Puppen, stattdessen Ball: Tischtennis, Volleyball, Handball und vor allem Fußball. Selbstverständlich im Verein bei den Jungen. „Ich war der kleine Franz Beckenbauer. Die haben mich behandelt wie einen von ihnen.“ Gefühlt hat sich Christian immer als Junge. So kleidet er sich auch, trägt zuletzt mit drei Jahren ein Kleid. Mit 11 Jahren, als die Pubertät beginnt, kommt dann der Schock: „Ich habe festgestellt: Ich bin kein Mann! Ich habe auf meinen Bart gewartet, stattdessen bekam ich meine Tage. Und Brüste sind mir gewachsen. Das war schrecklich!“

Mit 13 Jahren verweigert Christian den Schulbesuch, weil er von seiner Lehrerin gemobbt wird. Er geht auf eigenen Wunsch ins Internat, in ein katholisches Nonnenkloster! Christian wird neu als Mädchen eingekleidet, hat aber die Zeit dort in sehr guter Erinnerung. „Mit den Klosterfrauen konnte ich sogar Fußball spielen. Nur Handarbeiten habe ich gehasst.“ Das Beste für ihn aber war: „Ich durfte trotz Rock „ich“ sein. Die haben mich als Mensch angenommen.“

Trotz Mädchenkörpers bekommt Christian mit 13 Jahren einen Stimmbruch. „Kein Arzt konnte sich erklären, warum das so war. Ich habe im Kloster mit tiefer Stimme Litaneien gebetet.“ Zur gleichen Zeit schickt ihn die Mutter in psychiatrische Behandlung, damit er gestärkt wird, seinen Weg zu gehen. Der Therapeut nimmt ihn ernst. „Der hat mich aufgebaut und Stärke vermittelt und damit den Grundstein für meine Festigkeit gelegt.“

In Sachen sexueller Orientierung gibt es für Christian nie Zweifel. In der Pubertät beginnt er sich für Frauen zu interessieren. Seinen eigenen Frauenkörper lehnt er ab, wiegt schon mit 16 Jahren 100 Kilo. „Ich wollte meine Brüste verstecken.“

Als 15-Jähriger verlässt er das Internat und besucht eine private Handelsschule, die er mit der Mittleren Reife beendet. Anschließend macht er eine Ausbildung zum Speditionskaufmann. „Ich wollte gerne in die Import-Abteilung, weil ich hoffte, in fremde Länder zu kommen. Stattdessen landete ich in der Abrechnungsabteilung, weil ich frauentypische Sachen wie Steno und Maschine konnte.“

Nach der Ausbildung bleibt Christian nur noch ein halbes Jahr in seinem Beruf. In den folgenden Jahren jobbt er in Diskotheken als DJ, Kellner und stellvertretender Geschäftsführer. Eine Umschulung zum Restaurantfachmann kommt nicht in Frage. Er hätte keine Hosen tragen dürfen. Deshalb schult er zum Koch um.

1989 liest Christian – mittlerweile 32 Jahre alt – in einer Zeitung von einer operativen Geschlechtsumwandlung und leitet sofort alles in die Wege. Die erste Operation, die Entfernung weiblicher Geschlechtsmerkmale – also die Entfernung der Brüste, Eierstöcke und der Gebärmutter – ist ein Geschenk des Arztes. Nach dieser ersten Operation nimmt er den Vornamen Christian an. Den zweiten Vornamen Thomas wählt seine Mutter aus.

Die Kostenübernahme für zwei weitere Operationen zum Aufbau männlicher Genitalien verweigert die Krankenkasse. „Diese Operationen waren für mich sehr wichtig, weil ich komplett sein wollte.“ Christian erkrankt an einer schweren Depression und zieht sich zwei Monate lang völlig zurück. Die Mutter erledigt die Einkäufe. Der Hausarzt bescheinigt ihm eine schwere Erkrankung. Daraufhin trägt die Krankenkasse die Kosten.

1991 ist die Geschlechtsangleichung endlich vollständig abgeschlossen. Das neue Lebensgefühl beschreibt er so: „Das war einfach nur schön.“ Auch Christians Arzt ist zufrieden: „Sie sind gut gelungen.“

Im sogenannten Diagnosekatalog ICD-10 (Internationale Statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) wird Transsexualität als «Störung der Geschlechtsidentität» eingestuft. Ich frage Christian, ob ihn das ärgert? „Nein. Der Störung verdanke ich die komplette Kostenübernahme. Aber das Transgender Gesetz gehört abgeschafft. Das ist nicht mehr zeitgemäß.“ Das Gesetz regelt, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit eine Operation und die Namensänderung vorgenommen werden. Mittlerweile kann die Namensänderung von Standesämtern ohne Gutachter und ohne Operation vorgenommen werden.

Den Beruf des Kochs kann Christian nach der Operation nicht mehr ausüben. Für den Aufbau des Penoids wird aus seinem linken Unterarm Gewebe einschließlich Nerven, Arterien, Venen und Lymphgefäßen entnommen. Den Arm kann er deshalb nicht mehr belasten. Die nächsten 10 Jahre arbeitet Christian als Werkschutzfachkraft, seit 2001 als Sachbearbeiter im Facility Management. Er geht dort offen mit seiner Geschichte um. Was hinter seinem Rücken geredet wird, erfährt er erst viel später. „Das war vielleicht naiv. Menschen haben mit dem Anderssein sehr große Probleme, weil es ihnen Angst macht. Aber ich würde es wieder so machen.“ Ich frage Christian, was über ihn gesprochen wurde? „Ein Spruch wie: ‘Christian hat einen Weiberarsch’ war das Harmloseste“, berichtet er. „Andere waren: ’Halber Mann, der nix kann!‘ bis hin zu: ‘Unter Hitler hätten sie Menschen wie dich vergast!’ “ Ich spüre noch heute, wie tief ihn das verletzt hat. 

Nachdem er weiß, wie die Kollegen über ihn denken, ist das Arbeitsklima für ihn unerträglich. Mit dem Betriebsrat und der Personalleitung wird nach einer anderen Einsatzmöglichkeit im Betrieb gesucht. Schließlich bietet die Firma ihm an, in Altersteilzeit zu gehen. Das tut er 2017.

Seitdem bildet Christian sich ununterbrochen fort. Er lässt sich zum Heilpraktiker Psychotherapie ausbilden, macht eine Ausbildung zum Hospizbegleiter, arbeitet im Krankenhaus in der Sitzwache. Für die Selbsthilfe Kontaktstelle nimmt er an einer Schulung für ehrenamtliche sogenannte In-Gang-Setzer teil, um neu gegründete Selbsthilfegruppen in der Anfangszeit zu begleiten.

Seine spätere Ehefrau lernt Christian 1999 über eine Zeitungsannonce kennen. Die beiden schreiben und telefonieren ein halbes Jahr lang. Als sie sich das erste Mal sehen, erzählt Christian seine Geschichte. „Sie war total überrascht und wollte nur Freundschaft. Meine Zuverlässigkeit hat sie dann aber überzeugt.“ Fünf Jahre später heiraten sie und führen heute, wie er betont, eine ganz normale Ehe. Sie leben gemeinsam mit Christians Mutter bis zu deren Tod im eigenen Haus im Landkreis Cuxhaven.

Seine Frau ist es auch, die ihm 2017 rät, die Selbsthilfegruppe zu besuchen. „Sie hat vom Treffen in der Zeitung gelesen“, erzählt Christian und ihn ermutigt: „Das wird dir guttun.“

Sie behält Recht. Christian lernt die Gruppe kennen und wird Gruppensprecher, nachdem die Initiatorin die Gruppe verlassen hat. Dabei unterscheidet sich seine Geschichte so sehr von der der anderen. „Ich bin nicht als Mädchen erzogen worden.“

Was bedeutet ihm und den anderen die Gruppe? „Meine Toleranzgrenze ist größer geworden. Ich halte die Gruppe zusammen und versuche, den anderen Kraft zu geben weiterzumachen.“ Und das gelingt ihm gut. „Er ist unsere Seele“, bestätigt mir eine Teilnehmerin der Gruppe. Christian selber strahlt, als er eine andere zitiert: „Mein Leben ist jetzt wieder bunt.“ Christian ist sich sicher: „Manch einer erzählt der Gruppe mehr als seinem Therapeuten. Wir erfüllen einen therapeutischen Zweck, ohne therapieren zu wollen.“

Aber es gibt auch Negatives zu berichten. „Schlimm war für mich, dass mir der Rektor einer Schule den mit einer Lehrerin bereits vereinbarten Klassenbesuch untersagt hat.“ Christian lässt sich aber nicht beirren und arbeitet weiter am Aufbau eines Netzwerks für Transgender.

Das Erlebnis mit einem Vater, der sich weigert, seinen Sohn zu akzeptieren, führt dazu, dass er auch eine Gruppe für Angehörige gründet: die Regenbogen-Gruppe. Hier treffen sich Eltern, die Rat suchen. Christian appelliert an sie, ihre Kinder ernst zu nehmen und sie zu beobachten. Denn oftmals würden sich Kinder, die sich unverstanden fühlen selbst verletzen. „Bei den Kindern ist zu klären, ob es nur um eine andere sexuelle Orientierung geht oder darum, nicht mit sich und dem eigenen Körper in Einklang zu sein.“ Auch wenn es schwer ist für die Eltern. „Eltern müssen das nicht verstehen, aber sie müssen zu ihrem Kind halten und die Situation annehmen. Ihr Kind bleibt ihr Kind.“ Das sei ganz wichtig und gelte für alle Transgender: „Wir brauchen Menschen, die zu uns stehen.“

Gegenseitige Achtung und Respekt ist es, was Christian sich wünscht im Umgang mit anderen. Und er möchte alle – besonders aber die Transmänner – ermutigen an die Öffentlichkeit zu gehen. Warum besonders die, will ich wissen. „Weil man es ihnen nicht mehr ansieht. Und sie wollen nicht mehr daran erinnert werden.“

Ist dieser Prozess der Geschlechtsangleichung eigentlich irgendwann abgeschlossen oder bleibt man immer Transgender? Schließlich muss man ein Leben lang Hormone schlucken. Christians Antwort ist eindeutig: „Ich bin kein Transgender. Ich bin ein Mann.“ Und zwar einer mit sehr sensiblen Antennen für andere, wie ich finde.

Was mir Christian nicht vermitteln kann ist: Was macht es aus, sich als Junge oder Mädchen zu fühlen? „Du kannst mit deinem biologischen Körper nicht umgehen,“ erklärt er. „Ich weiß nur, dass ich ein Mann bin. Schon seit meiner Geburt. Punkt.“

Ich frage mich, ob wenn in einer Gesellschaft niemand in eine Rolle gedrängt werden würde, Menschen sich noch immer einen anderen Körper wünschen würden. „In der Gruppe gibt es einige“, erzählt Christian, „die bleiben in ihrem Körper. Aber der Wunsch einen anderen zu haben, der ist da.“

Es scheint wohl nicht auf alles Antworten zu geben. „Nein, sagt Christian abschließend. „Die Individualität der Menschen ist zu groß.“

Die Gespräche wurden 2019 geführt.

Text: Sabine Tscharntke