Unmögliches möglich machen

Es war einmal ein Maulwurf, der hieß Erwin. An seinem 6. Geburtstag wünschte er sich nichts sehnlicher als Lesen und Schreiben zu lernen. Alle anderen Kinder aus der Straße durften in die Schule gehen. Nur Erwin wurde nicht eingeschult. Dafür durfte er jeden Tag nach Herzenslust im Garten spielen. Da konnte er buddeln und sogar unterirdische Tunnel graben. Kam er abends voller Dreck und Schlamm heim, schimpfte seine Mutter nie.

Die anderen Kinder beneideten Erwin. Den ganzen Tag draußen spielen und keiner, der meckerte: „Du hast dich schon wieder schmutzig gemacht.“ Erwin konnte sich darüber gar nicht freuen. Viel lieber wäre er in die Schule gegangen und hätte all die Bücher gelesen, die in der Schulbibliothek standen. Was sich wohl für tolle Geschichten hinter den hübschen Buchdeckeln verbargen?

Wäre er doch bloß als Leseratte zur Welt gekommen statt als dummer, blinder Maulwurf. Warum gab es all die wunderschönen Dinge auf der Welt, die er nur vom Erzählen kannte? Warum war das Gras grün, das Meer türkis und der Himmel blau, wenn Erwin gar keine Augen hatte, all das zu sehen? Da hatte Erwin eine Idee. Er erzählte allen von der Maulwurfschule, die er gründen wollte.

Am nächsten Tag eilten sämtliche Maulwürfe von nah und fern herbei – einige hatten sich schon in der Nacht aufgemacht – klopften an das Tor und baten um Einlass. Dichtgedrängt saßen bald lauter kleine Maulwürfe im Garten. Alle hatten ein Buch auf dem Schoß und es schien, als würden sie lesen.

Was glaubt ihr, war geschehen?

Erwin lehrte sie mit der Fantasie statt mit den Augen zu lesen. Sie alle dachten sich beim Blättern in ihren Büchern eigene Geschichten aus, die sie einander vorlasen. Blind wie sie waren. Und nie wieder konnte einer ihnen weismachen, dass die Welt nicht bunt ist.

Sabine Tscharntke